INAIL hat Recht damit, bei der Bewertung arbeitsbedingten Stresses von sogenannten „Sentinel Events“ auszugehen. Über „Arbeit und Gesundheit“ zu sprechen, droht schnell zu einer theoretischen Übung oder einer Konferenzangelegenheit zu werden. Man landet rasch im Reich der idealen Arbeit. Aber mal ehrlich: Wer hat diese ideale Arbeit je gesehen? Auf den ersten Blick wirkt sie eher wie eine philosophische Kategorie als wie eine reale Beschäftigungsmöglichkeit. Der Arbeitsalltag legt etwas anderes nahe: Arbeit tut oft weh. Sie macht krank. Man verzichtet. Man opfert sich auf.
Wer nicht leidet – oder schlimmer noch, wer immer noch den Ehrgeiz hegt, sich über die Arbeit selbst zu verwirklichen – arbeitet vermutlich gar nicht wirklich. Aber ist das wirklich die Wahrheit?
In diesem Zusammenhang ist INAILs Verdienst der pragmatische Ansatz: Krankmeldungen, Fluktuation, Arbeitsunfälle und Versetzungswünsche zu messen, ist keine Philosophie. Es ist das Eingeständnis, dass Stress nicht mit einem allgemeinen Appell zur Gelassenheit gelöst wird. Und auch nicht mit Firmenyoga am Donnerstag.
Die Arbeits- und Organisationspsychologie verfügt seit Langem über solide Instrumente. Sie misst den erlebten Stress und seine Folgen; sie entwirft Arbeitsumgebungen, die mit der psychischen Gesundheit der Menschen vereinbar sind. Es geht nicht um utopische Träume, sondern um Wissenschaft. Die Norm ISO 10075-1 spricht – wenig überraschend – seit über zwanzig Jahren von der Ergonomie der psychischen Arbeitsbelastung. Die ISO 10075-2, gestützt auf eine breite Forschungsbasis, stellt unmissverständlich fest: Das Arbeitssystem ist an den Menschen anzupassen, der es nutzt. Ein einfacher, fast schon selbstverständlicher Grundsatz. So selbstverständlich, dass er oft vergessen wird.
Die ISO 10075-3 geht noch weiter und betont, dass eine subjektive Bewertung („Wie fühlst du dich bei der Arbeit?“) nicht ausreicht. Es braucht zusätzlich eine Aufgabenanalyse – eine strukturierte Betrachtung der Tätigkeiten, die mentale Ressourcen aufzehren, Frustration erzeugen oder in manchen Fällen sogar den Sinn der Arbeit auslöschen.
Bemerkenswert – und tröstlich – ist, dass diese Normen neben der Arbeitssicherheit auch Produktivität und Wohlbefinden als untrennbare Elemente anerkennen. Ein ganzheitliches Arbeitsverständnis, das dem 21. Jahrhundert ernsthaft begegnet. Man kann nichts davon ausklammern. Das wäre, wie Pizza ohne Tomate zu machen: technisch machbar, aber niemand würde sie ein zweites Mal bestellen.
INAIL hat also erneut Recht, wenn es Krankheitsausfälle zählt: Sie sind ein treuer – und recht schonungsloser – Spiegel der Kosten, die nicht-ergonomische Arbeit den Menschen und damit auch den Organisationen aufbürdet. Natürlich ist Stress nicht der einzige Krankmacher. Ein Blick in den Aktenordner des eigenen Fachkraft für Arbeitssicherheit genügt, um diese „Nebenwirkungen“ schwarz auf weiß zu sehen.
Doch der kluge Unternehmer – der über den Rand der Quartalsbilanz hinausschaut – versteht es: Schlechte Arbeitsgestaltung ist nicht nur ein Gesundheitsproblem, sondern ein Leistungsproblem. Und es kostet. Viel. Davon sprechen zahlreiche Studien zum Zusammenhang von Wohlbefinden, Motivation und Produktivität. Auch wir sprechen darüber – für alle, die tiefer einsteigen möchten.
Aber kommen wir zur eigentlichen Frage: Wie fördert man Gesundheit bei der Arbeit – wirklich?
Sicher nicht, indem man den Betrieb schließt. Klar ist: Arbeit muss getan werden. Gut getan werden. Und so, dass sie Wert schafft. Daran gibt es keinen Zweifel. Aber gerade deshalb wird es entscheidend, Gesundheit bei der Arbeit als Investition zu begreifen – nicht als Kostenfaktor. Eine Investition mit Langzeitwirkung, wie alle Dinge, die etwas wert sind. Und ich fordere jede und jeden heraus – mit Daten in der Hand –, das Gegenteil zu beweisen.
Aber Wissenschaft, wir wissen es … was weiß sie schon? Alles nur heiße Luft, haltlose Hypothesen. Und dann – das ist das größere Problem – ist sie nicht mal demokratisch. Denn wenn eine Studie aus jahrelanger Forschung stammt, mit sauberen, replizierbaren Methoden, definiert vor der Auswertung der Ergebnisse … dann kommt jemand, der von einem Reel zur nächsten Instagram-Story scrollt, und urteilt: „Ich sehe das aber anders.“ Sonst wär’s ja keine Demokratie, oder?
Naja.
Neben der Aufgabe, – ja, schon wieder – über die Methoden zu informieren, vielleicht ein wenig trocken, aber dafür solide (ja, genau diese ISO-Normen), und neben der Aufklärung über die geheimnisvolle Messung wahrgenommenen Stresses, müssen wir auch auf die Existenz surrealer Ansätze in der Arbeitsgestaltung hinweisen. Genau, die auf ergonomischen Prinzipien beruhen, die über Jahrzehnte von sogenannten Forschern entwickelt wurden – Menschen, so weltfremd, dass sie sich an Universitäten geflüchtet haben, wo sie nur deshalb überleben, weil sie – armes Würstchen – nie „richtige“ Arbeit gemacht haben, wie zum Beispiel ein Feld umgraben.
Kommen wir zum Punkt.
Neben all dem haben wir Arbeits- und Organisationspsycholog:innen auch noch einen weniger technischen, aber umso ehrgeizigeren Auftrag: eine Kultur zu fördern, die – wenigstens für einen Moment – Freude daran hat, diese Zeilen zu lesen. Eine Kultur, die sich im Sarkasmus und in der Ironie mit einem bitteren Lächeln wiedererkennt. Eine Kultur, die versteht, dass mentale Ergonomie kein Kostenfaktor ist, den man streichen sollte, sondern ein Wert, den es zu pflegen gilt.
Unsere Aufgabe ist es auch, die Welt der Unternehmen mit der psychologischen Wissenschaft in Kontakt zu bringen. Nicht, indem wir uns tarnen oder genauso denken wie sie, sondern indem wir den Mut haben, etwas anderes vorzuschlagen. Etwas Besseres. Eine echte Innovation. Aber das müssen wir gut machen. Mit Methode. Mit Sorgfalt.
Denn Psychologie ist eine Wissenschaft. Und wenn sie aus Angst, nicht ernst genommen zu werden, ihre Wissenschaftlichkeit aufgibt, dann bestätigt sie genau jene, die sie für bloßen Humbug halten. Die klassische selbsterfüllende Prophezeiung: „Die Unternehmer nehmen uns ja eh nicht ernst.“
Aber genau das wollen wir verhindern. Wir arbeiten am Gegenteil. Wir arbeiten daran, zu zeigen, dass Psychologie Arbeit verändern kann. Und verbessern. Wir arbeiten – wirklich – für gesunde Arbeit.